Das Internet eröffnet enorme Freiheitsräume. In den Genuss dieser Freiheiten kommt jedoch nur, wer die technischen Standards und sozialen Formen akzeptiert, die diesen Raum konstituieren. Zudem verwandelt sich in dem Maße, in dem mehr und mehr gesellschaftliche Funktionsbereiche in das Netz auswandern, die Möglichkeit des Zugangs zu einer Pflicht des Angeschlossen Seins: Jeden Tag, rund um die Uhr, bis zur Erschöpfung in digitaler Wachsamkeit lebt der genetzwerkte Mensch. Die Frage drängt sich auf, ob ein solches Leben Freiheit nicht gerade gefährdet. Doch auch die radikalen Kritiker der ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse in der Netzwerk-Gesellschaft setzen digitale Wachsamkeit als unhinterfragte Voraussetzung des eigenen Tuns.
Kritik der Wachsamkeit lenkt darum die oppositionelle intellektuelle Energie auf genau diese unhinterfragten Voraussetzungen: Problematisiert wird zum einen das
emanzipatorische Versprechen von Projekten des wachsamen Auges, wie einer Gegen-Überwachung im Sinne zivilgesellschaftlicher „watch-groups“. Zum anderen wird dem Verdacht nachgegangen, ob die Partizipation an vielversprechenden Open-Government-Initiativen nicht dieselben Muster von Überwachung reproduziert wie die Partizipation in sozialen Netzwerken. Gibt sich der in diesem Prozess daueraktive und rundum partizipative, kritische Netz-Beobachter am Ende in strukturell gleicher Weise preis wie der ebenso daueraktive und rundum partizipative Post-Privacy-User in seiner freiwilligen Selbstausleuchtungspraxis? Und wäre nicht ein ganz anderer Einsatz gefragt, nämlich für ein Recht auf Nichtgesehenwerden und auf Vergessen? Billigt digitale Wachsamkeit dieses Recht? Wenn ja: Wie könnte es mit juristischen Mitteln verankert werden? Und wichtiger noch: Wie könnte darüber ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden?